3. Von der Jahrhundertwende bis 1933

Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 nahmen Industrialisierung und modernisierende Veränderungen ein geradezu dramatisches und über Jahrzehnte ungebremstes Tempo an. Vom Lande strömten nun die Juden in die rasch größer werdenden Städte, um die Chancen in neuen Industrien und Dienstleistungszweigen am Schopf zu packen, um Geschäfte aller Art zu gründen und die Möglichkeiten in expandierenden Banken zu nutzen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Großteil der einheimischen Judenschaft der Mittelschicht zuzurechnen. Gleichermaßen versuchten sie durch die Übernahme typisch deutscher Tradition (SGV‑Mitgliedschaft, aktive Teilnahme an bürgerlichen Festen, Mitgliedschaft in Kriegervereinen etc.) sich der deutschen Bevölkerung anzugleichen, um als geachtete Minderheit am Gemeinwesen mitzuwirken. Im Verlaufe dieser Jahrzehnte bildeten sich Schwerpunkte jüdischen Lebens im Kreis Olpe in den größeren Orten Olpe und Attendorn aus. Dazu kam das durch die Ruhr‑Sieg‑Eisenbahn profitierende Altenhundem.

Nach dem für Deutschland unglücklichen Ausgang des 1. Weltkriegs, in dessen Verlauf allein aus Westfalen 450 Juden fielen, erstarkte der bereits vergessen geglaubte Antisemitismus vergangener Jahrhunderte aufs neue. Man suchte einen Schuldigen und fand diesen in der jüdischen Minderheit. Diesmal warf man den Juden vor, sich nicht ihrer Umgebung anzupassen. Umgekehrt hat man in unserer Region den Juden die Integration in den 20er Jahren, von Ausnahmen abgesehen, auch nicht leicht gemacht. Zu den christlichen Vereinen und Organisationen erhielten sie keinen Zutritt. Auch in den Clubs, in denen sich die höheren Gesellschaftskreise zusammenfanden, wurden sie nicht aufgenommen, ebenso nicht in Karnevalsvereinen. Eines der wenigen Gegenbeispiele existiert in Olpe mit der Aufnahme von Mitgliedern der Familie Lenneberg in die SGV‑Abteilung Olpe. Isaak Lenneberg gehörte am 20. September 1890 sogar zu den Mitbegründern der Abteilung. Im Mitgliederverzeichnis von 1914 bis einschließlich 1928 sind Isaak und Julius Lenneberg als Mitglieder aufgeführt, ab 1929 auch noch Hermann Lenneberg. Am 4. Dezember 1930 wird anlässlich des 40jährigen Jubiläums Isaak Lenneberg Ehrenmitglied der Abteilung. Auch der Olper Metzgermeister Julius Emmanuel wird 1931 neues Mitglied. Erst 1936 werden sie mit dem Hinweis „nichtarisch“ beim SGV in Hagen abgemeldet. Das Verhältnis zwischen der Olper Bevölkerung und den jüdischen Mitbürgern scheint aber im großen und ganzen noch weitgehend intakt gewesen zu sein.

Eine Verkäuferin des Textilgeschäftes Lenneberg in Olpe erinnert sich in einem Brief aus dem Jahr 1981 an diese Zeit wie folgt:

Als ich im Jahre 1929 meine Stellung wechselte und mich als Verkäuferin bei der Firma Isaak Lenneberg bewarb, ahnte ich nicht, dass die Verbindung bis zum heutigen Tag, also über 50 Jahre lang bestehen würde. Die Fa. Lenneberg hatte weit und breit einen guten Ruf und beschäftigte ca. 40 Angestellte, was im Jahre 1929 etwas Großes für Olpe bedeutete. Im Jahr 1884 stand das Geschäft noch auf der Frankfurter Straße. Isaak Lenneberg baute das neue Haus, heute Ring‑Kaufhaus, in die Kölner Straße, mit Aufzug etc. Scherzend meinte er manchmal: ich kenne jeden Stein.

Das Betriebsklima war einmalig, auch zwischen Chefs und Personal. Unsere Herren interessierten sich für private Angelegenheiten, erteilten Rat und halfen, wo sie konnten. Also Isaak Lenneberg war der Vater der beiden Juniorchefs Hermann und Julius. Ersteren Frau hieß Tilde, die kleine Tochter Hannele. Julius wohnte mit Frau Giesela und Sohn Hans in der Felmicke. Tochter Lene war mit Herrn Heinemann verheiratet, besaß ein Textilgeschäft und wohnte in Altena. Am 14. März 1931 wurde der Seniorchef 70 Jahre alt, was großartig im Kaiserhof mit allen Angestellten bis zum frühen Morgen gefeiert wurde. Einige Damen sind später unter die Bomben gekommen, die männlichen Jugendlichen fast alle im Krieg gefallen. Langsam schlich sich der Nationalsozialismus ein und mit ihm der Hass gegen die Juden. Es wurde von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag schlimmer.

Da weitere persönliche schriftliche Aussagen zur Einstellung der Bevölkerung des Kreises gegenüber den Juden in der Weimarer Republik fehlen, lassen Sie uns einen Blick in das im Kreisgebiet am meisten verbreitete Presseorgan, das zentrumsnahe „Sauerländische Volksblatt“ (SV), werfen. Nachdem im Jahr 1925 die NSDAP in der Berichterstattung achtmal Erwähnung gefunden hatte, findet sich der erste Hinweis auf eine antijüdische Äußerung seitens der Partei am 7. Mai 1926.

Drei Angehörige der jüdischen Familie Jacob in Lenhausen beim Schützenzug 1932: Erich Jacob als Schützenkönig, die Damen Henny und Else Jacob in der 3. und 4. Reihe. Im Unterschied zu anderen Orten konnten in Lenhausen jüdische Bürger Mitglied des Schützen­vereins sein.

Goebbels hatte auf einer Versammlung als Hauptredner unter anderem den Reichstagsabgeordneten der DDP, den ehemaligen Minister für Wiederaufbau Walther Rathenau, öffentlich als „Judensau“ beschimpft. Von Seiten der Redakteure des SV erfolgte in diesem Fall, wie auch in weiteren 5 Berichten vor 1933, die Angriffe auf die Juden enthielten, keine Kritik. Keine Veröffentlichung befasst sich ausführlich mit diesem Thema, und eine klare, eindeutige Stellungnahme erfolgte eben so wenig.

Die Haltung, die das „Sauerländische Volksblatt“ in der „Judenfrage“ einnimmt, widerspricht seiner sonstigen ablehnenden Stellung zu den Nationalsozialisten. Wie kommt es, dass die „Judenfrage“ und der Antisemitismus der NSDAP, auch vor der Machtübernahme, so wenig Beachtung fanden? In einer Examensarbeit über die Berichterstattung des SV während der Jahre 1925 ‑ 1933 wird als Begründung für diese Einstellung angegeben, dass der Antisemitismus nicht nur in der NSDAP vorkam, sondern in vielen Bevölkerungsschichten vertreten war.

Bei der Befragung von Zeitzeugen wurde als ein Grund für eine Ablehnung der Juden Sozialneid genannt, da Einwohner des Kreises während der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er / Anfang der 30er Jahre bei jüdischen Kaufleuten verschuldet waren. Direkte öffentliche Anfeindungen oder gar Aktionen hat es vor 1933 im Kreisgebiet nicht gegeben.

Eine rassistisch gefärbte Gesellschaftspolitik und parteipolitische Programmatik, die allerdings nicht von den Nationalsozialisten entwickelt worden waren, sondern auf bereits im 19. Jahrhundert entwickelte Rassentheorien z. B. eines Eugen Dühring zurückgingen, erfuhren erst in den darauf folgenden 12 Jahren ihre politische Umsetzung: nämlich die Legitimation einer umfassenden Judenverfolgung.

 

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