4. „Friedliche“ Aktionen 1933 ‑ 1935

Mit der Machtergreifung wurde der Antisemitismus als wesentlicher Teil der nationalsozialistischen Weltanschauung zu einer der tragenden Säulen der Staatserneuerung gemacht. Es wurde auch im Kreis Olpe versucht, die staatlicherseits erlassenen Gesetze gegen die Juden durch die Kreis‑ und Ortsgruppenleitungen der NSDAP durchzuführen. Das Jahr 1933 bzw. der Boykott jüdischer Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte war Ausgangspunkt für die allmähliche Zurückdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben. Die Aktionen sollten auch, wie die Gauleitung Westfalen‑Süd in Bochum bestimmte, »in größter Disziplin« durchgeführt werden. Die Landräte und Bürgermeister des Bezirks wurden angewiesen, bei den „geringsten Anzeichen“ beabsichtigter Ausschreitungen die Gauleitung „mit größter Beschleunigung“ zu benachrichtigen, »damit im Entstehen begriffene Ausschreitungen, im Einvernehmen mit der Parteileitung, verhindert werden können«. Mit diesem Satz beginnt die Akte des Kreisausschusses des Kreises Olpe mit dem Titel „Maßnahmen zum Schutze des nationalsozialistischen Staates gegen Juden 1933 bis 1936“.

Erste Beschwerden von jüdischen Kaufleuten gegen Boykottaktionen gab es anlässlich des Olper Schützenfestes am 17. Juli 1933 von Hermann Lenneberg, Olpe, von Alfred Cohn in Attendorn am 5. September und vom Kaufhaus Geschwister Winter, Altenhundem, am 28. Oktober 1933. Das Schreiben Hermann Lennebergs, Olpe, zeigt, wie die örtliche SA Einschüchterungsmaßnahmen durchzuführen versuchte. Lassen Sie mich daher aus diesem Dokument zitieren:

„Gestern Vormittag begann der Saison‑Schlußverkauf. Kurz nach 8 Uhr erschienen SA‑Leute und stellten sich vor meinem Ladenlokale auf. Die erscheinenden Käufer wurden von ihnen laut angerufen und dann die Namen notiert. Der Zweck dieses Verhaltens war die Boykottierung meines Geschäftes.

Aus Anlass des gestrigen Schützenfestes hatte ich die schwarz‑weiß‑rote Flagge gehisst. Gegen 9 Uhr betraten in meiner Abwesenheit 2 SA‑Leute mein Lokal und verlangten die Entfernung der Flagge. Mein Bruder, Julius Lenneberg, erklärte, die Fahne würde nicht entfernt, da wir unter derselben gekämpft hätten. Ich bemerkte hierzu, dass ich selbst Frontkämpfer bin und als Offizier bei der 6. Garde‑Minenwerfer‑Kompagnie gestanden habe. Desgleichen ist mein Bruder Frontsoldat. Die SA‑Leute sind dann fort gegangen. Gegen 11 Uhr erschien der Polizei‑Hauptwachtmeister und verlangte ebenfalls die Entfernung der Fahne, um, wie er sagte, etwaigen Unruhen vorzubeugen. Ich habe daraufhin die Fahne eingezogen.

Die SA‑Leute sind bis etwa 5 Uhr vor meinem Lokal geblieben. Ich erstatte hiermit Anzeige gegen die Schuldigen und bitte dafür Sorge zu tragen, dass diese Vorfälle sich nicht wiederholen.“

Aus der Sicht des eben genannten mitwirkenden Polizeihauptwachtmeisters werden die Vorgänge wie folgt geschildert:

„Im Laufe des gestrigen Vormittags wurde mir auf dem hiesigen Schützenplatz, woselbst gelegentlich des Schützenfestes das Vogelschießen stattfand, von dem Truppführer M. aus Eichen bei Drolshagen folgendes mitgeteilt:

Aus Anlass der Feier des Schützenfestes in Olpe hatten die jüdischen Geschäfte Lenneberg & Emmanuel die schwarz‑weiß‑rote Flagge gehisst. Auf Befehl des Sturmbannführers Georg habe ich die Inhaber der beiden Geschäfte aufgefordert, die Flaggen einzuziehen. Während Emmanuel meiner Aufforderung nachgekommen ist, weigerten sich die Inhaber des Geschäftes Lenneberg, Hermann und Julius Lenneberg, die Einziehung der Flagge zu veranlassen. Nachdem ich den Sturmbannführer Georg hiervon in Kenntnis setzte, gab mir dieser den Auftrag, durch einen Polizeibeamten die Durchführung der Maßnahme bei Lenneberg erzwingen zu lassen.

Auf Grund dieser Mitteilung begab ich mich zu dem Geschäft Lenneberg. Bei meiner Ankunft in der Kölner Straße stellte ich fest, dass sich dort eine Anzahl nicht ortsansässiger SA‑Leute aufhielt, die vereinzelt oder zu zweien auf den Bürgersteigen umherstanden, bzw. auf der Straße patrouillierten. Hieraus zog ich den Schluss, dass, wenn die Einziehung der schwarz‑weißroten Flagge, die von Lenneberg gehisst war, nicht durchgeführt werden würde, mit Gewalttätigkeiten gegen das Geschäft Lenneberg oder dessen Inhaber zu rechnen sei. Aus diesem Gesichtspunkt heraus habe ich von dem Kaufmann Hermann Lenneberg die Einziehung der Flagge verlangt und durchgesetzt.

Von dem Truppführer E. K. wurde mir bei Erörterung der Angelegenheit mitgeteilt, dass den Sturmbannführem von höherer Stelle der Befehl zugegangen sei, in jedem Falle, in dem von Juden aus irgend einem Anlass heraus die schwarz‑weiß‑rote Flagge gehisst würde, die Einziehung derselben durchzuführen.

Nach einer Mitteilung des bereits oben erwähnten Truppführers fand auch die Boykottierung des Geschäftes Lenneberg auf Anordnung der Sturmbannführung statt.“

Im Falle des Kaufmanns Cohn in Attendorn handelte es sich nicht, wie in Olpe, um eine offene Boykottierung, sondern um einen so genannten stillen Boykott, der sich, 9 Monate nach der Machtübernahme in echten finanziellen Einbußen ausdrückte. Ich zitiere aus der Beschwerde:

„Als Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft nehme ich Bezug auf die gegen mich erlassenen Maßnahmen, insbesondere das Verbot, in meinem Geschäft nicht mehr kaufen zu dürfen, und erlaube mir, hierzu folgendes anzuführen: Abgesehen davon, dass ich seit Jahrzehnten ein mittelständisches Gewerbe im eigenen Hause und Grundbesitz am Platze betreibe, meinen steuerlichen Verpflichtungen gegenüber Reich, Staat und Stadt jederzeit nachgekommen bin und meine Familie sich des besten Ansehens und Rufes in der Stadt erfreut, bedeutet der gegen mich laufend weitergeführte stille Boykott eine mir unerklärliche Härte schon deswegen, weil meine Familie und auch ich nur immer deutsch gefühlt haben und jederzeit zu vaterländischen Opfern bereit waren.

Zur Erläuterung teile ich Ihnen mit, dass meine Familie und deren Vorfahren nachweislich seit mehr als 250 Jahren in Attendorn resp. Westfalen wohnen. Mein am 9. 5. 1928 verstorbener Vater, der als ein Mann von echt deutscher Gesinnung und ehrenwertem Charakter in Attendorn geachtet und beliebt war, diente mit 2 seiner Brüder in Rostock und war mehr als 40 Jahre Mitglied des Attendorner Kriegervereins. Auch nach 1918, wo die öffentliche Meinung gerade vom Standpunkte des Geschäftsmannes dagegen sprach, einem vaterländischen Verein anzugehören, hat mein Vater eine Ehre darin gesehen, jederzeit öffentlich als echter Patriot zur alten Fahne zu halten. So war es auch sein sehnlichster Wunsch, unter Beteiligung des Kriegervereins beerdigt zu werden, was auch geschah. Trotz seines hohen Alters übernahm mein Vater in der Zeit von 1914 ‑ 1918 freiwillig militärische Hilfsdienste. Außer der gezeichneten Kriegsanleihe in Höhe von 100000 Mk. gab mein Vater nicht nur sämtliches Gold und Silber, sondern auch den ererbten Familienschmuck ab und hat so ein Vermögen für das Vaterland geopfert. ‑Meine Mutter, die Mitinhaberin Frau S. Cohn, stammt aus einer alten westfälischen Familie, die Jahrhunderte in Rheine und Burgsteinfurt wohnte und nachweislich nur geachtete Staatsbürger waren. ‑ Ich selbst bin als kaum 18jähriger ins Feld gezogen und habe als Infanterist meine Pflicht dem Vaterlande gegenüber treulichst erfüllt. Im Schützengraben habe ich mir ausweislich meiner Militärpapiere das Fünf‑Tage‑Fieber zugezogen, an dessen Folgen ich noch Jahre gelitten habe. Außerdem bin ich wegen Tapferkeit vor dem Feinde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. ‑ Mein Großvater hat den Feldzug 1870771 mitgemacht und ist für tapferes Verhalten vor dem Feinde mit Orden und Ehrenzeichen dekoriert worden.

Politisch hat sich niemals ein Mitglied der Familie betätigt und war auch keines der Familienmitglieder Angehöriger einer Partei.

Unter Berücksichtigung aller dieser Tatsachen, vermag ich nicht zu begreifen, warum ich mit Maßnahmen bedacht werde, die doch auf mich, der ich mit meinem mittelständischen Gewerbe meinen Verpflichtungen gegenüber Reich, Staat und Stadt und nicht zuletzt meinen Angestellten nachkommen muss, keine Anwendung finden können. Ich beschäftige in meinem Hause seit Jahren nur christliches Personal. Die Umsätze, insbesondere seit dem ersten April ds. Js. sind so wesentlich gesunken, dass es nur noch eine Frage kurzer Zeit ist, wie lange ich noch meine Angestellten weiter beschäftigen kann. Im Interesse der Weiterführung des Geschäftes und im Interesse der Angestellten stelle ich ergebenst das Gesuch, mir die Genehmigung zu erteilen:

1.    dass es keinem, insbesondere Beamten und Arbeitern untersagt ist, in meinem Geschäft zu kaufen,

2.    Bedarfsdeckungsscheine für die Arbeitslosen einlösen zu dürfen,

3.    Bezugsscheine, die das Wohlfahrtsamt an Hilfsbedürftige in begründeten Einzelfällen abgibt, einlösen zu dürfen,

4.    Ehestandsdarlehen einlösen zu dürfen.“

Der Attendorner Ortsgruppenleiter der NSDAP nimmt dazu wie folgt Stellung:

„Wir beziehen uns auf die Stellungnahme des Bürgermeisters der Stadt Attendorn. Wir haben nur noch hinzuzufügen, dass in der Zeit des Novembersystems die an Hilfsbedürftige zu verabfolgenden Bezugsscheine auf Kleidungsstücke sämtlich auf die hiesigen jüdischen Geschäfte lauteten. Die Schmalz‑Fett‑ und Kartoffelverteilung hat in dieser Stadt ein hiesiger Manufaktur‑Jude in den Händen. Es besteht nicht die geringste Veranlassung, nunmehr den hiesigen Juden, wo sie nur einen geringen Teil der Geschäftssorgen heute tragen, die unsere arischen Kleingewerbetreibenden seit Jahr und Tag mit sich herumschleppen, helfend beizuspringen. Unsere Kleingewerbetreibenden hier haben seit Jahren unter der jüdischen Geschäftsroutine unserer Familien Cohn, Lenneberg und Stern gelitten. Die hiesigen Juden verdienen gerade wegen ihres Verhaltens bis heute nicht das geringste Entgegenkommen.“

Der Fall des Altenhundemer Kaufhauses Winter ist dem Attendorner Beispiel vergleichbar. Man beschwerte sich ebenfalls gegen die durch den Bürgermeister verfügte „Versagung der Einlösung von Bedarfsdeckungsscheinen“. Der Kirchhundemer Bürgermeister antwortet darauf in seiner Stellungnahme an den Landrat:

„Herrn Landrat (in) Olpe

Zur Entscheidung vorgelegt. Nach den Richtlinien des Herrn Reichsfinanzministers vom 12. 7. 1933 dürfen Verkaufsstellen, deren Inhaber nicht arischer Abstammung sind, zur Entgegennahme von Bedarfsdeckungsscheinen nicht zugelassen werden. Die Inhaber des Kaufhauses Geschw. Winter in Altenhundem waren Juden. Aus diesem Grunde wurde der Antrag abgelehnt.“

Die Boykottaktionen scheinen nicht an allen Orten den erhofften Erfolg gezeigt zu haben, denn die jüdischen Geschäfte haben in den nächsten Jahren weiter bestanden. Die Mehrheit der Bevölkerung ließ sich vom Einkauf in diesen Läden nicht abhalten.

 

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