8. Der Pogrom vom 9./10. November 1938

Nachdem bis jetzt die Entwicklung des jüdischen Lebens im Kreis Olpe ausführlich beschrieben wurde, kommen wir nun zum tragischen Ereignis, dessen wir heute gedenken: dem 9. und 10. November 1938.

Die Ereignisse des 10. November im Kreis Olpe nahmen ihren Anfang am Abend des 9. November im über 550 km entfernten München.

Am 9. November gab Goebbels den zur Erinnerung an den „Marsch zur Feldherrnhalle“ im Münchener Alten Rathaussaal zusammengekommenen „Alten Kämpfern“ in einer wüsten antijüdischen Hetzrede das Startzeichen für den Pogrom. Zuvor hatte er den Anwesenden den Tod des deutschen Botschaftsrats in Paris, Ernst vom Rath, mitgeteilt, der am 7. November durch den 17jährigen Juden Herschel Grynszpan durch mehrere Schüsse schwer verletzt worden war. Herschel Grynszpan, ein in Hannover geborener Jude polnischer Nationalität, dessen Eltern kurz vorher durch deutsche Behörden nach Polen ausgewiesen worden waren, hatte, wie er vor der Polizei aussagte, durch dieses Attentat, das eigentlich dem deutschen Botschafter in Paris gelten sollte, auf das Schicksal der Juden in Deutschland aufmerksam machen wollen.

Am schnellsten reagierte auf Goebbels´ Startzeichen die NSDAP. Die anwesenden Gauleiter und Gaupropagandaleiter stürzten gegen 22.30 Uhr zum nächsten Telefon und riefen die heimischen Dienststellen an. Von den Stäben der Gaue sollten die Anweisungen an die Kreisleiter gehen, von den Kreisleitern die Ortsgruppen instruiert werden. Zwischen 23 und 24 Uhr gaben die anwesenden SA‑Führer eindeutige Befehle von München an ihre heimischen Dienststellen durch, nachdem SA‑Stabschef Viktor Lutze zuvor in Form eines Appells seine Gruppenführer informiert hatte. Ein Fernschreiben des Reichspropagandaleiters erging gegen 1.40 Uhr an die Gaupropagandaämter.

Am 10. November, gegen 6.00 Uhr morgens, geht im Kreis Olpe der erste Funkspruch aus Dortmund mit Verhaltensmaßregeln bei der "Maßnahme gegen Juden" ein. Er besagt:

„Funkspruch

(Geheim für den Regierungsbezirk Arnsberg)

Betr.: Maßnahmen gegen Juden für die Behandlung von antisemitischen Kundgebungen ergehen folgende Anordnungen:

1.) Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentum mit sich bringen.

2.) Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen lediglich zerstört, nicht geplündert werden.

3.) Ausländische Juden dürfen nicht misshandelt werden.

4.) Jegliche Brandlegungen sind auf ausdrücklichen Befehl allerhöchster Stellen zu verhindern.

5.) Demonstrationen sind, soweit die Anordnungen von 1 ‑ 4 eingehalten werden, nicht von der Polizei zu verhindern, sondern auf die Einhaltung der Anordnungen zu überwachen.

6.) In allen Synagogen und Geschäftsräumen der jüdischen Kultusgemeinden ist das vorhandene Archiv‑Material polizeilich zu beschlagnahmen, damit es nicht zerstört wird. Sobald wie möglich sind in den dortigen Bezirken insbesondere einflussreiche und vermögende männliche Juden gesund und nicht so hohen Alters festzunehmen, und zwar so viel, wie in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Über Vorkommnisse und das Veranlasste ist laufend zu berichten. Nach diesseitig erfolgter Rücksprache mit der Gauleitung sind zu den örtlichen Dienststellen der NSDAP Verbindungen aufzunehmen.

Stapo Dortmund“

Mittlerweile hatte sich in Attendorn aber bereits einiges zugetragen. Ein Augenzeuge, Bruno Reuber, hat kürzlich vor einem Oberstufen‑Arbeitskreis des Attendorner St.‑Ursula‑Gymnasiums davon erzählt. In einem Zeitungsbericht über diese Veranstaltung heißt es u. a.:

„Es war gerade fünf Uhr morgens, als der Schuhmacher in unsere Backstube stürzte und rief: Hör auf zu backen! Sie sind dabei, die Juden kaputtzuschlagen. Ich bin dann zur Villa der Sterns (mit denen Bruno Reuber befreundet war) gelaufen. Zwei Attendorner SA‑Leute versperrten mir den Eintritt. Erst als ich ihnen erzählte, die Brötchenrechnung kassieren zu wollen, ließen sie mich herein. Als ich im Inneren des Hauses stand, blieb mir fast der Atem stehn.

Mit Spitzhacken waren die Marmortreppen zerschlagen worden, ein altes Gemälde war von der Wand gerissen und mit Stiefeln zertreten worden. Überall im Treppenhaus lag Porzellan zertrümmert herum. Die Familie Stern saß eingeschlossen in der Küche auf einer Holzkiste und weinte. Alles ringsherum war kaputtgeschlagen worden. Ich habe dann mit den Sterns gebetet. Stern hat anschließend zu mir gesagt: Erst sind wir Juden dran, dann ihr Christen.

Die Hälfte der SA‑Leute hatte bei den Sterns noch dicke Pumplatten (Schulden). Ein evangelischer Pastor zeigte Mut und besuchte die Sterns. [ ... ] Dann bin ich weiter in die Wasserstraße gelaufen, wo die Cohns wohnten. Vom gegenüberliegenden Zigarrenladen Menne habe ich gesehen, wie SS‑Leute die Wiege eines einjährigen jüdischen Kindes umstellten und auf das Baby urinierten, (Die Redaktion: Diese Schilderung wird von anderen Augenzeugen bezweifelt. Sie sprechen davon, dass das Kind „nur“ angespuckt worden ist.)

Ein Attendorner Fabrikant zertrümmerte mit einer Eisenstange das Schaufenster der Cohns. Als ich einige Jahre später zur Erstkommunion bei einem SS‑Mann eingeladen wurde und das teure Service umdrehte, sah ich den Namenszug Lenneberg.“

In den nächsten Tagen meldeten jüdische Attendorner Familien folgende Diebstähle bei der Polizei, die sogar bei der Staatsanwaltschaft Siegen bearbeitet wurden.

Ich zitiere dazu aus einer Akte des Kreisarchivs Olpe:

„Die Jüdin Emilie Lenneberg in Attendorn hat bei der Ortspolizeibehörde der Stadt Attendorn gemeldet, dass ihr bei der Protestaktion am 10. November 1938 eine Geldtasche mit ungefähr 1000,‑ RM in Papiergeld abhanden gekommen sei. Die Tasche habe sich in einem Schrank in ihrer Wohnung befunden. Ungefähr 1 Woche später sei die leere Tasche im Keller des Hauses wieder gefunden worden.

Ebenfalls hat die Jüdin Betty Stern in Attendorn gemeldet, dass aus der Wohnung ihres Bruders, des Juden Emil Stern in Attendorn, aus einer Brieftasche, welche sich in einem verschlossenen Schreibtische befunden habe, ein Betrag von 250,‑ RM in Papiergeld, ferner 2 Rasierapparate und 1 Füllfederhalter entwendet worden sei.

Weiterhin hat die Jüdin Frau Albert Ursell, Else geb. Hentschel, aus Attendorn bei der Ortspolizeibehörde in Attendorn am 10. 12. 1938 angegeben, dass ihr bei der Protestaktion am 10. 11. 1938 1400 bis 1500 RM, und zwar eine Rolle Hartgeld, bestehend aus 50 Einzelmarken und das übrige Geld aus 20 und 50 Markscheinen, sowie 2 Brillantringe im Werte von zusammen ungefähr 2500 RM abhanden gekommen seien. Geld und Ringe hätten sich in einer Geldtasche, die in einer verschlossenen Schublade des Wohnzimmerschrankes gelegen habe, befunden. Ferner seien mehrere Tischtücher und Tischdecken und auch ein Teil Bettwäsche nicht wieder zu finden. Nach der Zerstörung ihrer Wohnung habe sie die Leibwäsche zerrissen unter den Trümmern wieder gefunden, dagegen die Tisch‑ und Bettwäsche nicht. Die Geldtasche habe sich leer unter den zertrümmerten Möbeln wieder gefunden.

In allen 3 Fällen sind die nach den Tätern angestellten Ermittlungen bis jetzt ohne Erfolg geblieben.

Ob die Angaben der Juden auf Wahrheit beruhen, ist im übrigen mit Sicherheit nicht nachzuweisen, da die Juden wohl kaum den Beweis für ihre Behauptungen erbringen können. Die Klärung der Angelegenheit, insbesondere auch die Ermittlungen der Täter wird die Ortspolizeibehörde ohne Entsendung eines Kriminalbeamten von dort oder der Kriminalpolizeisteile in Dortmund wohl kaum möglich sein.“

 

 Ein Bild vom Tage der „Reichskristallnacht“ 1938 in Attendorn. Das Mädchen in der Was­serstraße schaut, ohne es zu ahnen,

einem grausigen Ereignis zu. Der Attendorner Bürger Alfred Cohn wird, umringt von Polizei und Gestapo, abgeführt und in „Schutzhaft“ genommen.

 

Der Landrat schildert am 17. 11. die Vorgänge aus seiner Sicht wie folgt:

"Stadt Attendorn

Gegen 6 Uhr wurden an dem jüdischen Geschäft Cohn die sämtlichen 7 Schaufensterscheiben zertrümmert. Gegen 10½ Uhr vormittags wurden dann die Juden Kaufmann Hermann Stern, Kaufmann Kurt Stern, Angestellter Emil Stern und der Kaufmann Alfred Cohn in Schutzhaft genommen und in dem Polizeigefängnis untergebracht. Im Anschluss hieran haben Demonstrationen der SS und SA stattgefunden, bei denen die Wohnungen und Wohnungseinrichtungen der sämtlichen jüdischen Familien (1 Synagoge und 5 Wohnungen) zerstört wurden. Brandstiftungen sind nicht vorgekommen. Plünderungen wurden bei der Durchführung der Maßnahmen nicht festgestellt.

Das in der Synagoge in Attendorn und in dem Geschäftsraum der jüdischen Kultusgemeinde vorgefundene Archivmaterial wurde polizeilich beschlagnahmt und sichergestellt. Der jüdische kaufmännische Angestellte Kurt Winter von Attendorn, der bei der Aktion am 10.11. übersehen wurde, ist am 11.11. in Schutzhaft genommen worden.

Am 11.11.1938 gegen 14½ Uhr hat sich der Jude Emil Stern auf dem Klosett des Amtsgerichts in Attendorn die Schlagadern an den Unterarmen durchschnitten.

Stern, der am 10.11. zusammen mit den anderen Juden in Schutzhaft genommen und in das Polizeigefängnis im Amtsgerichtsgebäude eingeliefert worden war, sollte am 11.11. um 15 Uhr in das Gerichtsgefängnis Olpe überführt werden. Kurz vor dem Abtransport wollte Emil Stern auf dem Abort des Amtsgerichts austreten. Nachdem Stern den Abort betreten hatte, klirrten im Abort Fensterscheiben. Da die Aborttür von innen abgeriegelt und Stern auf Befragen keine Antwort gab, hat die Polizei die Tür gewaltsam erbrochen und Stern mit durchschnittenen Schlagadern vor dem Klosett liegend gefunden.

Der Polizeibeamte hat sofort die Schlagadern zunächst zugedrückt und dann mit starken Bindfäden abgebunden, worauf die Blutungen aufhörten.

Der herbeigerufene Arzt Dr. Rustemeyer hat Stern verbunden. Stern ist dann von der Sanitätskolonne in das Krankenhaus in Attendorn gebracht worden. Nach Aussage des Arztes besteht keine Lebensgefahr, ebenfalls für die nächsten 14 Tage auch keine Fluchtgefahr.“

Die Diebstähle sind nie aufgeklärt worden.

Auf eine Anfrage des Staatsarchivs in Münster wegen des besagten Attendorner Archivmaterials teilt der Attendorner Bürgermeister am 20. Januar 1939 mit:

„Bei der Judenaktion am 10.11.1938 sind aus der Synagoge in Attendorn folgende Gegenstände sichergestellt worden:

4 Doppelrollen mit Hüllen (Thora), 1 Horn, 2 Beutel mit 26 Gebetsbändern, 1 Beutel mit einem Gebetsriemen, 3 Vorhänge, 125 Gebetbücher, 1 kleine Gebetsrolle, 1 gedruckter Aushang betr. Kaiser Wilhelm II., 1 Protokollbuch, 1 Mappe mit Schriftwechsel, 1 Schlüssel und ein Stempel.

Die beschlagnahmten Gegenstände sind am 6.1.1939 dem Außenstellenleiter des Sicherheitsdienstes RFSS aus Olpe ausgehändigt worden.

Vielleicht sind das Protokollbuch und die Mappe mit dem Schriftwechsel für Archivzwecke besonders geeignet.“

Und der Landrat ergänzt am 1. Februar: "Die beschlagnahmten Gegenstände befinden sich bei der Staatspolizeistelle bzw. beim SD Dienst in Dortmund. Ich stelle anheim, sich mit dieser Stelle wegen der Auswertung des Materials in Verbindung zu setzen ."

Wo die betreffenden Gegenstände geblieben sind, ist bis heute ungewiss.

Kommen wir nun zu den Vorgängen in der Stadt Olpe. Zunächst sollen auch hier einige Augenzeugen, die ihre Erinnerungen zu den Vorgängen des 10. November mitgeteilt haben, zu Worte kommen.

„Gegen ½11 Uhr morgens treffen ca. 10 SA‑Männer aus Dortmund, vermutlich mit einem LKW ein und treffen sich mit der örtlichen Parteileitung. Der Ortsgruppenleiter, Rektor der Imbergschule, hat von seiner Schule drei und vom Städtischen Gymnasium vier weitere Lehrer in Uniform mitgebracht, dazu gesellten sich sechs Bedienstete der Stadtverwaltung. Sie begaben sich zusammen zu "Kante Mund" in der Winterbergstraße / Ecke Kölner Straße und übten antijüdische Parolen ein.

Durch die leeren Straßen ist der Demonstrationszug mit ca. 35 Personen zum Haus Lenneberg gezogen. Ein Olper SA‑Mann ist auf Hermann Lenneberg zugegangen und hat zu ihm wörtlich gesagt: „Jetzt ist es aus mit deiner Judenherrlichkeit“ und dabei das Anschreibebuch unter der Ladenkasse weggeholt, obwohl Lennebergs das Geschäft schon gar nicht mehr gehörte und deshalb auch nicht demoliert worden ist.“

Die ehemalige Verkäuferin im Geschäft Lenneberg schildert die Vorgänge in ihrem Brief so:

„Manch Olper wird sich noch an das gewaltsame Abholen des Juden Lenneberg in der Felmicke erinnern. Dem armen Menschen, der an sich schlecht gehen konnte, wurde der Hut tief über den Kopf gezogen, die Hosenträger abgenommen, so dass er seine Hose festhalten musste, und so mit Marschliedern durch die Olper Straßen geführt.

Welch ein Hohn! Noch Schlimmeres sollte kommen. Die berüchtigte Kristallnacht nahte. Hier geschah es am hellichtsten Tag. Die Möbel aus der zweiten Etage (Wohnung von Hermann Lenneberg mit Frau und Kind, nebst altem Herrn) flogen in hohem Bogen in die Mühlenstraße. Die „Henker“, anders kann man sie nicht nennen, nahmen selbst vor den intimsten Sachen keinen Halt. Wenn sie sich noch am Küchenherd plagen mussten, ihn durchs hohe Fenster auf die Straße zu werfen, so flog die Wäsche wie Fetzen durch die Luft. Dasselbe Bild in der Bahnhofstraße beim Metzgermeister Emmanuel (heute Linde). Frau Emmanuel scheute sich nicht, anschließend auf der Straße im Gerümpel bückend und weinend nach Bildchen zu suchen, Fotografien von ihren lieben Angehörigen. ‑ Die Jugend von heute wird fragen:

Und was sagte die Bevölkerung dazu?

Antwort: Als Therese Kemper, Frau von Dr. Walter Kemper, Seminarstraße, bei der Aktion vor Lenneberg nur mit einem Satz ihrer Entrüstung Luft machte, wurde sie sofort verhaftet. Zwei Tage blieb sie hier im Gefängnis, in einem stallartigen Viereck (wie sie mir selbst erzählte), hinter dem alten Rathaus. Nach dieser Unterkunft wurde diese mutige Frau von der Gestapo nach Siegen in Untersuchungshaft gebracht. Vier lange Wochen dauerten Gefängnisaufenthalt und Verhöre, bis sie gottlob wieder nach Hause durfte. Die Gefahr für die Juden wurde immer größer. Obige tapfere Frau Kemper sorgte in großer Eile, dass ihr Onkel in Amerika für die Einreise der Lenneberger bürgte und sie so vor der Vergasung schützte. Sie mussten ohne Habe, Geld und Gut flüchten und in Amerika die niedrigsten Arbeiten verrichten, um das tägliche Brot zu erwerben.“

Die eben genannte Frau Therese Kemper schildert die Vorgänge folgendermaßen:

„Lennebergs waren unsere Nachbarn. Ich habe den 10. November miterlebt. Ich sehe noch, wie sie das Bild von Herrn Lenneberg hoch erhoben halten und dann auf die Straße werfen. Und die Möbel und den Kühlschrank und das Essen. Die vielen Bettfedern überall! Ich habe einem SA‑Mann gesagt: „Sie zerstören Betten und wir sollen welche sammeln für die Flüchtlinge aus dem Sudetenland!“ Da hat er geantwortet: „Wollen Sie in Judenbetten schlafen?“ ‑ Alle Olper schliefen doch in Judenbetten, die hatten sie bei Lennebergs gekauft!

Den Hermann Lenneberg haben sie abgeführt zum Rathaus. Er wurde nicht öffentlich durch die Stadt geführt, weil er im Ersten Weltkrieg Offizier war und Kriegsorden hatte.

Aber seinem Bruder Julius Lenneberg hatten sie die Hosenträger abgeschnitten. So musste er durch die Stadt gehen und sich dabei die Hose festhalten. Und er konnte doch gar nicht gut gehen.

 

50jähriges Firmenjubiläum der Fa. J. Lenneberg 1934. Links das alte Geschäftshaus Lenneberg,

rechts das neue aus den späten zwanziger Jahren. Archiv: Gretel Kemper

 

Nachdem alles vorüber war, war Stille in der Stadt. Die Menschen standen alle unter einem Schock. Niemand traute sich, etwas zu sagen.

SA‑Männer ,bewachten' auf der Straße die Trümmer. Die sollten zur Einschüchterung dort liegen bleiben. Die SA‑Leute aber sagten, sie müssten sie bewachen, damit nicht geplündert würde!"

Therese Kemper, geb. Zeppenfeld

Der damals vierjährige Manfred Schöne aus Olpe machte folgende Beobachtung:

„Ich besuchte seit Anfang 1938 den Kindergarten der Franziskanerinnen im Mutterhaus, dort, wo heute das Rathaus steht. Am Mittag des 10. November 1938 ging ich durch die Mühlenstraße zum Elternhaus an der Kölner Straße.

Mir, dem damals fast Vierjährigen, fielen die erregten Menschen auf, die am Eckhaus Lenneberg (heute Ringkaufhaus) standen.

Erschrocken war ich über die zertrümmerten Möbel, die aus der Wohnung auf das Straßenpflaster geworfen worden waren. Ich sah ein Klavier, dann Kochtöpfe und dann viele, viele Bettfedern, die aus aufgeschlitzten Kissen herausflogen, wie Schneeflocken.“

Stellen wir diesen Aussagen von Zeitzeugen die Schilderung der Vorgänge aus der Sicht des Landrats Evers gegenüber:

„Stadt Olpe

Angehörige der Politischen Leitung und SA (teils in Uniform, teils in Zivilkleidung) versammelten sich gegen 11.00 Uhr auf der Kölner Straße, formierten sich zu einer Marschkolonne und marschierten in einer Stärke von 35 bis 40 Personen durch die Hindenburg‑, Rochus‑ zur Felmickestraße. Während des Marschierens wurden Kampflieder gesungen und ein Sprechchor gebildet. Hierbei fragte stets ein SA‑Mann: „Wer hat Wilhelm Gustloff ermordet? Wer hat den Legationsrat vom Rath ermordet?“ darauf antwortete die Abteilung: „Die Juden.  Deshalb die Parole? Raus mit den Juden.“

Vor dem Hause des Juden Julius Lenneberg, geb. 10.10.1888 in Olpe, wohnhaft in Olpe, Felmickestraße 28, nahm die Marschkolonne Aufstellung und der Sprechchor sprach die vorstehenden Worte. Eine Abordnung dieser Kolonne begab sich in die Wohnung des Lenneberg und zertrümmerte die Wohnungseinrichtung. Damit Unbefugte nicht an das Haus gelangen konnten, wurde die Straße von Angehörigen der SA abgesperrt. Diebstähle und Plünderungen sind daher nicht vorgekommen. Lenneberg wurde von der SA ersucht, das Haus zu verlassen, und anschließend von der Polizei sofort in Schutzhaft genommen. Von dort marschierte die Marschkolonne unter Zurücklassung einiger SA‑Männer zur Kölner‑ und Bahnhofstraße. Vor den Häusern bzw. in den Wohnungen der Juden Hermann Lenneberg, geb. 8.3.1890 in Olpe, wohnhaft in der Kölner Straße 7, und Julius Emmanuel, geb. 4.10.1880 in Olpe, wohnhaft in Olpe, Bahnhofstraße 7, ereigneten sich die gleichen Vorfälle. Sämtliche erwachsene männliche Juden wurden von der Polizei in Schutzhaft genommen. Jüdische Personen sind nicht misshandelt worden. Durch Hinauswerfen größerer Gegenstände sind bei den jetzigen Besitzern der Häuser Felmickestraße 28 und Kölner Straße 7 einige kleine Fensterscheiben und eine Schaufensterscheibe beschädigt worden. Ebenfalls wurden in dem der Kölner Straße 7 gegenüber liegenden Haus des Konditors Franz Zeppenfeld einige kleine Fensterscheiben zertrümmert.“

Am Nachmittag ereigneten sich dann die letzten organisierten antijüdischen Ausschreitungen in Altenhundem. Paul Tigges gibt in seinem 1984 erschienenen Buch "Jugendjahre unter Hitler" folgenden Augenzeugenbericht ab:

„Es gibt Bilder, die man nicht vergisst, Eindrücke, die sich so eingeprägt haben, dass sie uns ein Leben lang begleiten. Ein solches Bild ist für mich der Tag der Reichskristallnacht, der 10.11.1938. Ich sehe mich als 15jährigen Obertertianer in einer dichten Menschenmenge auf dem Bürgersteig der Hundemstraße in Altenhundem stehen. Es ist nachmittags 3 Uhr. In der Nähe an einem Mietshaus der Eisenbahn hängt der Stürmerkasten, von dem aus seit Jahren gegen Juden, Pfaffen und Kommunisten gehetzt wird. Gegenüber werden aus dem 1. Stock der beiden jüdischen Geschäftshäuser von SA‑Leuten die letzten Uhren und kleine Möbelstücke geworfen. Die Schaufensterscheiben sind eingeschlagen, der Bürgersteig ist übersät mit Scherben und zerbrochenem Gerät. Plötzlich entsteht vom Bahnhof her eine Bewegung, laute Kommandos sind zu hören.

Dann kommt ein Zug von SA‑Leuten vorbeimarschiert. In der Mitte führen sie einen Jungen, einige Jahre älter als ich. Es ist Otto Neuhaus, der Sohn des jüdischen Metzgers. Bleich schaut er zu Boden, um den Hals ein Schild. Die Aufschrift lautet: „Ich bin der letzte Judenlümmel von Altenhundem.“ Er kam von der Arbeit in einer Littfelder Fabrik und wird an seinem Elternhaus vorbei zum Gefängnis in Kirchhundem gebracht. Die Menge ist erstarrt, keiner spricht ein Wort. Da kommt die Mutter, eine große, weißhaarige Frau, aus der Haustür gestürzt. Sie sieht nicht die Scherben und Trümmer um sich, sie sieht nur ihren Sohn, den man gefangen vorbeiführt. Sie rauft sich die Haare und hebt die Hände. Sind es Verwünschungen? Ist es ein Flehen um Gottes Hilfe? Neben mir schreit hysterisch eine Frau auf und weist auf die verzweifelte Mutter: „Seht einmal diese alte Hexe!“ Alle haben geschwiegen, keiner hat sich gerührt. Auch später hat keiner protestiert.“

Diesem Bericht soll wiederum die Schilderung von Landrat Evers in seinem Schreiben an die Staatspolizeistelle Dortmund folgen:

„Altenhundem (Amtsbezirk Kirchhundem)

Im Amtsbezirk Kirchhundem sind 2 Juden und zwar Metzgermeister Aron Neuhaus und Metzger und Erdarbeiter Otto Neuhaus aus Altenhundem in Schutzhaft genommen worden. In Altenhundem sind 2 jüdische Familien wohnhaft; die Familie Aron Neuhaus und die Geschwister Winter. An männlichen Personen waren im Amtsbezirk Kirchhundem nur noch die beiden Häftlinge Aron und Otto Neuhaus wohnhaft.

Außer dem Manufakturwarengeschäft Else Winter befanden sich im Amtsbezirk Kirchhundem keine jüdischen Geschäfte mehr.

Bei den Demonstrationen sind die Einrichtungen des Geschäftes der Jüdin Else Winter und die Zimmereinrichtungen der Wohnungen Winter und Neuhaus vollständig zertrümmert worden. Ebenso wurden alle Fensterscheiben eingeschlagen.

Bei den Juden in Altenhundem sind an Waffen eingezogen worden 1) 1 Browning, 2) ein alter Trommelrevolver, 3) zwei Schächtmesser mit Futteral.

Die Waffen außer dem Browning füge ich bei.

Der Browning ist von der SA eingezogen worden, der Verbleib konnte nicht ermittelt werden.

Im Kreis Olpe sind alle männlichen Juden im Alter von 14 ‑ 70 Jahre in Haft genommen worden. Ein Verzeichnis der inhaftierten Juden des Kreises füge ich bei. Die inhaftierten Juden sind inzwischen mittels Sammeltransportes auf Veranlassung der Staatspolizeistelle, Außenstelle Siegen, nach Dortmund abtransportiert worden.

Der Jude Stern, der sich im Krankenhaus Attendorn befindet, wird überwacht. Sobald Stern transportfähig ist, wird wegen seines Abtransportes das Weitere veranlasst werden. Juden sind hier nicht flüchtig geworden .“

Was der Landrat allerdings nicht mitteilt, sind die grotesken Vorgänge, die sich neben den Zerstörungen der Geschäfts‑ und Wohnungseinrichtungen der beiden jüdischen Familien auch in Wohnungen zweier nichtjüdischer Familien zugetragen haben.

Wir erfahren darüber aus einer Akte des Kreisarchivs, in der sich Anträge auf Wiedergutmachung von Schäden aus den Aktionen vom 10. November befinden. Die Zerstörer hatten bei ihren Verwüstungen nicht zwischen „arischern und jüdischem“ Vermögen unterscheiden können. Der Landrat gibt darüber folgenden Bericht an den Regierungspräsidenten in Arnsberg:

„Antrag Langenscheid:

In dem Wohn‑ und Geschäftshaus des Geschädigten befand sich eine Verkaufsstelle für Manufaktur‑ und Weißwaren der jüdischen Geschwister Winter aus Altenhundem. Langenscheid hatte an die Geschwister Winter 1 Ladenlokal und 2 Wohnräume vermietet. Bei der fraglichen Aktion wurden 18 kleinere Fensterscheiben und 2 Thekenscheiben im Werte von 52,10 RM zertrümmert. Dem Langenscheid ist durch die Aktion außerdem ein mittelbarer Schaden in Höhe von 260,‑ RM entstanden. Diese Summe setzt sich zusammen aus Kosten für die Instandsetzung der beschädigten Wände und Fußböden und aus dem Mietausfall für die fraglichen Räume.

Langenscheid, der allein stehend und 60 Jahre alt ist, bestreitet seinen Lebensunterhalt ausschließlich aus seinen Mieteinnahmen von monatlich 87,50 RM. Abgesehen von dem Wohn‑ und Geschäftshaus besitzt Langenscheid kein Vermögen. Im Hinblick auf die bescheidenen Verhältnisse, in denen er lebt, ist ihm durch die Aktion ein nicht unerheblicher Schaden entstanden. Die Gewährung einer Entschädigung an L. in Höhe von 300,‑ RM halte ich daher für gerechtfertigt und richtig.“

Antrag Frau Hiltenkamp:

Die Geschädigte hatte einen Teil ihres Wohnhauses an die Juden Winter in Altenhundern als Wohnung vermietet. Bei der fraglichen Aktion haben folgende im Eigentum der Ww. Hiltenkamp stehende Gegenstände und Anlagen Beschädigung erlitten: 2 Wandschränke, ein Spülstein, Lichtleitung und Treppengeländer. Die Instandsetzungskosten betragen 80,‑ RM. Bei Durchführung der Aktion war nicht bekannt, dass die genannten Gegenstände Eigentum der Ww. Hiltenkamp waren.

Die Ww. Hiltenkamp hat 5 minderjährige Kinder zu unterhalten.

Die Erstattung der Instandsetzungskosten von 80,‑ RM an Ww. Hiltenkamp wird von mir befürwortet.“

Wie die Öffentlichkeit kurz und knapp über die Vorgänge des 10. November informiert wurde, ersehen wir aus einer von der NSDAP gelenkten Zeitungsmeldung des Sauerländischen Volksblattes vom 11. November 1938.

„Die Juden erhielten die Quittung

Der geballte Zorn der Bevölkerung richtete sich in Olpe, Attendorn und Altenhundem, wo die Juden Lenneberg, Emmanuel, Cohn und Winter herumschmarotzten, gegen die Inneneinrichtung der Wohnungen und die Schaufenster der jüdischen Ramschläden. Die männlichen Juden wurden dabei in Schutzhaft genommen. Den ganzen Tag über bewegten sich riesige Menschenmengen durch die Straßen, die in gefühlsmäßigen Demonstrationen gegen verbrecherische und systematische Unruhestifter der Welt Stellung nahmen. Das Volk gab in diesen Stunden klar und deutlich zu verstehen, dass im Kreise Olpe kein Platz mehr für das internationale Judengesindel vorhanden ist und dass jeder weitere jüdische Anschlag gegen das Deutschtum ein Schlag gegen das Judentum selber, aber auch gegen alle Judenknechte sein wird.“

Dieser Artikel war von Berlin aus gelenkt. Es gab ja schon lange keine Pressefreiheit mehr.

In Elspe, wo die 5 unverheirateten Schwestern Neheimer wohnten, die im Alter zwischen 60 und 70 Jahren waren, passierte nichts. Sie stellten aber unmittelbar nach dem Pogrom Ausreiseanträge, um zu einer in Belgien wohnenden Schwester zu ziehen. Anfang Februar 1939 haben sie Elspe verlassen.

Das Fazit des Vandalismus vom 9./10. November 1938 war: Im gesamten Reichsgebiet sind bei den Ausschreitungen 91 jüdische Personen getötet worden. Der angerichtete Sachschaden betrug mehrere Hundertmillionen Mark. Etwa 7500 Geschäfte wurden zerstört und etwa 600 Synagogen und Gebetshäuser verwüstet und in Brand gesetzt. Die Vernichtung jüdischen Eigentums war eine Seite des Pogroms, eine zweite war die Verhaftung männlicher Juden im Alter von 14 bis 70 Jahren.

Von den über 26 000 Verhafteten wurden 10 911 in das KZ Dachau, 9 845 in das Lager Buchenwald und der Rest nach Sachsenhausen gebracht.

Aus dem Kreis Olpe wurden am 11. November gegen 20 Uhr elf jüdische Männer nach Dortmund transportiert.

Es waren aus Olpe: Julius und Hermann Lenneberg sowie Julius und Hans Emmanuel.

Aus Attendorn:

Hermann und Kurt Stern

Emil Stern, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, trat diesen Weg erst später an.

Des weiteren Alfred Cohn und Kurt Winter.

Aus Altenhundem:

Aron und Otto Neuhaus.

Auch diese Verhaftungsmaßnahme sollte den Auswanderungsdruck verstärken, eine Absicht, die besonders deutlich dadurch hervortrat, dass man die Entlassung eines Teils der Inhaftierten von der Vorlage der Auswanderungspapiere abhängig machte.

Wie wir aus den folgenden Schicksalen jüdischer Einwohner des Kreises Olpe ersehen werden, haben sich viele schnellstens um ihre Ausreisepapiere bemüht, aber nur zum Teil erhalten.

Bis zum 23. Oktober 1941 bestand die Möglichkeit zur Auswanderung, dann wurde sie endgültig untersagt. Im Herbst des gleichen Jahres begannen die ersten Deportationen aus dem alten Reichsgebiet zum Osten, wo man Ghettos und Konzentrationslager eingerichtet hatte. Auf der "Wannseekonferenz" am 20. Januar 1942 wurde unter Leitung Heydrichs auf Staatssekretärebene die sofortige Ausrottung, die so genannte „Endlösung der Judenfrage“, beschlossen. Von überall her setzte nun verstärkt die Verschickung der Juden in die verschiedenen Konzentrations‑ bzw. Vernichtungslager ein. Die Deportationen aus dem Reich kamen erst am 4. April 1945 zum Stillstand.

Die brutalen, unmenschlichen Vorgänge während der NS‑Zeit und die Millionen der jüdischen Opfer, die in das Räderwerk der fast immer reibungslos funktionierenden NS‑Tötungsmaschinerie gerieten, übersteigen jegliches menschliches Vorstellungsvermögen.

 

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